Populismen in Europa
Renovabis ‐ In Europa geht ein Gespenst um, das besonders die Vertreter der etablierten Parteien aufschreckt: der Populismus. In allen Teilen des Kontinents wird der Ton des gesellschaftlichen Diskurses rauer; angesichts vielfältiger Probleme wird der Ruf nach schnellen Lösungen immer lauter. Das aktuelle Heft von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ schaut sich das Thema genauer an.
Aktualisiert: 24.08.2017
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In Europa geht ein Gespenst um, das besonders die Vertreter der etablierten Parteien aufschreckt: der Populismus. In allen Teilen des Kontinents wird der Ton des gesellschaftlichen Diskurses rauer; angesichts vielfältiger Probleme wird der Ruf nach schnellen Lösungen immer lauter. Das aktuelle Heft von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ schaut sich das Thema genauer an.
Im Mittelpunkt der Kritik steht die Europäische Union, besonders ihre Zentrale in Brüssel, der Unbeweglichkeit und Weltfremdheit vorgeworfen werden. Im Anschluss an den Brexit hat sich die Stimmung in Ländern wie Frankreich, Österreich und den Niederlanden verschärft, ganz zu schweigen von den Entwicklungen in Ungarn und Polen. Auch in Deutschland erhalten populistische Strömungen starken Zuspruch – man denke an die Pegida-Demonstrationen und den Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ (AfD).
Angesichts dieses ernüchternden Befundes will das aktuelle Heft von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ ein wenig zur Klärung der Fakten beitragen. Es ist zunächst einmal wichtig, Populismus als Begriff und aktuelles wie auch historisches Phänomen zu umschreiben. Dies geschieht im Folgenden im Blick auf neun europäische Länder, wobei auch die Frage gestellt wird, wie sich die Kirchen bzw. Christen gegenüber den populistischen Bewegungen verhalten sollen. Der Eröffnungsbeitrag des in Bonn lebenden Politikwissenschaftlers und Publizisten Dr. Andreas Püttmann bietet Ansätze zu einer Definition des Phänomens „Populismus“, zeichnet die Geschichte der „Neuen Rechten“ in Deutschland nach, für die seit 2013 die „Alternative für Deutschland“ (AfD) und die Pegida-Bewegung stehen, und setzt sich aus Sicht eines engagierten Christen kritisch mit den Thesen und der Programmatik dieser Strömungen auseinander.
Mit Ungarn, dessen politischer Entwicklung die Analyse des in Maastricht lehrenden Historikers Dr. Ferenc Laczó gilt, wird anschließend ein Land vorgestellt, das unter der Regierung von Viktor Orbán schon seit einer Reihe von Jahren auf der „Welle des Populismus“ reitet und damit zum Vorbild für populistische Regierungen z. B. in Polen geworden ist.
Eine ganz andere Situation lässt sich für Frankreich festhalten, dessen aktuelle politische Lage im Beitrag des am Centre Marc Bloch in Berlin tätigen Publizisten und Journalisten Sébastien Vannier vorgestellt wird: Der politisch weit rechts stehende Front National hat im „Superwahljahr“ 2017 einen erheblichen Dämpfer erlitten, da die Partei weder bei den Präsidentschaftswahlen noch bei der Wahl zur Nationalversammlung die gesteckten Ziele erreichen konnte. Der Autor analysiert die Hintergründe, warnt aber zugleich davor, den Front National künftig zu verharmlosen, da er in weiten Teilen Frankreichs inzwischen fest verwurzelt ist.
Der folgende Text blickt in einen anderen Teil Europas, nach Südosten ins ehemalige Jugoslawien, wo nach Ansicht mancher Analysten autoritär-populistische Tendenzen „schon immer“ vorhanden waren. Mit spitzer Feder weist Dr. Nenad Stefanov, Koordinator des Interdisziplinären Zentrums „Crossing Borders“ an der Humboldt-Universität Berlin, nach, dass es sehr wohl Parallelen zwischen dem Aufkommen des Populismus in Südosteuropa und den angeblich „neuen“ Strömungen im Westen des Kontinents gibt.
Dass Parteien in vermeintlich traditionell demokratisch geprägten Staaten nicht davor gefeit sind, die populistische Karte zu ziehen, belegt der Beitrag des niederländischen Historikers Dr. Frans Hoppenbrouwers. Auch die etablierten Parteien in seiner Heimat argumentieren immer häufiger mit solchen Argumenten; leider haben die Parlamentswahlen im Frühjahr dieses Jahres gezeigt, dass sich die Situation künftig eher noch verschärfen wird.
Anders sieht es nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Matti Wiberg, Dozent an der Universität Turku, mit der populistischen Partei der „Finnen“ (oder „Wahren Finnen“) aus. Diese Gruppierung, die fast nur durch spektakuläre Aktionen ohne inhaltliche Substanz aufgefallen ist, hat in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung verloren, sodass sie zumindest gegenwärtig für die demokratische Entwicklung Finnlands keine Bedrohung bildet.
Wie steht es um die Entwicklung in Österreich, das in gewisser Weise an der Schnittstelle zwischen Ost und West in Europa liegt? Der Pastoraltheologe Prof. em. Dr. Paul Michael Zulehner, ein langjähriger kritischer Beobachter von Politik und Gesellschaft, kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Nicht nur die FPÖ, sondern auch die anderen großen Parteien Österreichs vertreten mehr oder weniger offen populistische Tendenzen, und in der jüngeren Generation nimmt der Ruf nach dem „starken Mann“ ständig zu.
Auf dem Prüfstand steht auch der Umgang mit den zugewanderten Flüchtlingen, für die sich zwar besonders viele Christen eingesetzt haben, es andererseits aber innerhalb kirchlicher Kreise viele Vorbehalte gibt. Stärker noch hat in den letzten Jahren, und zwar speziell seit dem Regierungswechsel 2015, Polen den Weg zu autoritären Strukturen eingeschlagen. Die Politik der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) greift, wie die Analyse der Osteuropa-Historikerin und Journalistin Gabriele Lesser zeigt, immer stärker in die demokratische Grundordnung des Landes ein und zielt darauf, eine „neue Republik“ mit starken Anleihen an das autoritär regierte Polen der 1930er Jahre zu errichten.
Der letzte Beitrag in dieser Abfolge führt nach Griechenland, wo interessanterweise Populisten vom linken und vom rechten Rand des Parteienspektrums zusammengehen. Der an der Universität Saarbrücken tätige Politikwissenschaftler Prof. em. Dr. Heinz-Jürgen Axt analysiert Entstehung und politische Ziele dieser seltsamen Koalition, deren Politik gegenüber der Europäischen Union voller Widersprüche ist.
Zu den typischen Kennzeichen einer populistisch ausgestalteten Politik zählen Vereinfachung und Abgrenzung („wir“ gegen „die“ usw.), was in der Praxis u. a. in Fremdenfeindlichkeit und übersteigerten Nationalismus einmündet. Dies muss die Kirchen und jeden einzelnen Christen auf den Plan rufen, handelt es sich doch um klare Widersprüche zu den Geboten des Evangeliums. In den vorgestellten Beiträgen, besonders bei Andreas Püttmann und Paul Michael Zulehner, wird diese Thematik teilweise angesprochen.
Schwerpunktmäßig setzt sich Cassandra Speer B.A., Wissenschaftliche Hilfskraft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum, in ihrem Beitrag „Kirche und Populismus in Europa“ damit auseinander; als Fallbeispiele dienen Deutschland, Polen und Ungarn. Abgerundet wird das Heft durch ein Interview mit dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Prof. Dr. Thomas Sternberg, in dessen Mittelpunkt der Begriff „Christliches Abendland“ und dessen Vereinnahmung durch deutsche Rechtspopulisten stehen.
Von Dr. Christof Dahm
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