Der Katakombenpakt
Am 16. November 1965 trafen sich etwas mehr als 40 Bischöfe aus allen Teilen der Welt in den Domitilla-Katakomben von Rom und legten ein Gelübde für eine dienende und arme Kirche ab.
Aktualisiert: 13.09.2022
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Dass durch die Liebe in einem ersten Aufleuchten bereits hier auf Erden das Reich Gottes sichtbar werde: Dieses Sinnziel kirchlichen Daseins und Wirkens klingt für die Konzilsteilnehmer aus Osteuropa und vor allem aus den außereuropäischen Ländern in eine viel härtere Wirklichkeit hinein – oder aus ihr heraus – als für die meisten Kirchenvertreter Nordamerikas oder des westlichen Europa.
Die reale Armut der Welt, von der im Vorfeld und während des Konzils auch in der innerkirchlichen Auseinandersetzung in bis dahin kaum gekannter Weise gesprochen wird, ist die alltägliche Realität, aus der vor allem die Kirchenvertreter der Südkontinente nach Rom gekommen sind. „Alle Lebensangst, die die Menschen quält“, brennt vielen von ihnen spürbar und sehr konkret „auf der Seele“. Ihr Bemühen, die Arbeit des Zweiten Vatikanischen Konzils möglichst direkt in den (kirchlichen) Alltag ihrer Heimatländer zu übersetzen, beginnt noch in Rom. Lebens- und religionsfeindliche politische Regime, Militarismus, Vetternwirtschaft, Korruption, Ausbeutung und die bittere Armut ganzer Bevölkerungen bewegen einen Teil der zum Konzil versammelten Bischöfe zu einer beeindruckenden Initiative.
Die wechselseitige Durchdringung von Dogma und Pastoral, das heißt von kirchlicher Lehre und kirchlicher Praxis, wie sie vor allem die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ kennzeichnet, wollen die Bischöfe zeigen in ihrer Art des Mit-Lebens in der Welt, die sie konkret umgibt. Die Einsicht, dass theologische Erkenntnisgewinnung „vorrangig nicht über das geschriebene Wort, sondern über die Teilnahme am inneren Leben der Welt“ verläuft, sollte für die Menschen am alltäglichen Lebensstil ihrer Bischöfe ablesbar sein. Unmittelbar. Auf Augenhöhe mit allen Gliedern des Volkes Gottes legen darum etwas mehr als 40 Bischöfe aus allen Teilen der Welt ein Gelübde ab.
Am 16. November 1965 treffen sie sich dazu in den Domitilla-Katakomben von Rom, feiern dort miteinander Eucharistie und versprechen, nach ihrer Rückkehr vom Konzil, das am 8. Dezember 1965 zu Ende gehen soll, etwas Grundsätzliches in ihrem Leben und ihrem kirchlichen Dienst ändern zu wollen. Eine treibende Kraft unter ihnen ist Dom Hélder Câmara, gerade Erzbischof von Olinda und Recife in Brasilien geworden. Die Selbstverpflichtung der gut 40 Bischöfe, der sich später noch weitere 500 Bischöfe anschließen, hat folgenden Wortlaut:
Für eine dienende und arme Kirche
Als Bischöfe, die sich zum Zweiten Vatikanischen Konzil versammelt haben; die sich dessen bewusst geworden sind, wie viel ihnen noch fehlt, um ein dem Evangelium entsprechendes Leben in Armut zu führen; die sich gegenseitig darin bestärkt haben, gemeinsam zu handeln, um nicht als Eigenbrötler und Selbstgerechte dazustehen; die sich eins wissen mit all ihren Brüdern im Bischofsamt; die vor allem darauf vertrauen, durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sowie durch das Gebet der Gläubigen und Priester unserer Diözesen bestärkt zu werden; die in Denken und Beten vor die Heilige Dreifaltigkeit, vor die Kirche Christi, vor die Priester und Gläubigen unserer Diözesen hintreten; nehmen wir in Demut und der eigenen Schwachheit bewusst, aber auch mit aller Entschiedenheit und aller Kraft, die Gottes Gnade uns zukommen lassen will, die folgenden Verpflichtungen auf uns:
(1) Wir werden uns bemühen, so zu leben, wie die Menschen um uns her üblicherweise leben, im Hinblick auf Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und alles, was sich daraus ergibt (vgl. Mt 5,3; 6,33–34; 8,20).
(2) Wir verzichten ein für allemal darauf, als Reiche zu erscheinen wie auch wirklich reich zu sein, insbesondere in unserer Amtskleidung (teure Stoffe, auffallende Farben) und in unseren Amtsinsignien, die nicht aus kostbarem Metall – weder Gold noch Silber – gemacht sein dürfen, sondern wahrhaft und wirklich dem Evangelium entsprechen müssen (vgl. Mk 6,9; Mt 10,9; Apg 3,6).
(3) Wir werden weder Immobilien oder Mobiliar besitzen noch mit eigenem Namen über Bankkonten verfügen, und alles, was an Besitz notwendig sein sollte, auf den Namen der Diözese bzw. der sozialen oder caritativen Werke überschreiben (vgl. Mt 6,19–21; Lk 12,33–34).
(4) Wir werden, wann immer dies möglich ist, die Finanz- und Vermögensverwaltung unserer Diözesen in die Hände einer Kommission von Laien legen, die sich ihrer apostolischen Sendung bewusst und fachkundig sind, damit wir Hirten und Apostel statt Verwalter sein können (vgl. Mt 10,8; Apg 6,17).
(5) Wir lehnen es ab, mündlich oder schriftlich mit Titeln oder Bezeichnungen angesprochen zu werden, in denen gesellschaftliche Bedeutung oder Macht zum Ausdruck gebracht werden (Eminenz, Exzellenz, Monsignore ...). Stattdessen wollen wir als „Padre“ angesprochen werden, eine Bezeichnung, die dem Evangelium entspricht (vgl. Mt 20,25–28; 23,6–11; Joh 13,12–15).
(6) Wir werden in unserem Verhalten und unseren gesellschaftlichen Beziehungen jeden Eindruck vermeiden, der den Anschein erwecken könnte, wir würden Reiche und Mächtige privilegiert vorrangig oder bevorzugt behandeln (z. B. bei Gottesdiensten und bei gesellschaftlichen Zusammenkünften, als Gäste oder Gastgeber; vgl. Lk 13,12–14; 1 Kor 9,14–19).
(7) Ebenso werden wir es vermeiden, irgendjemandes Eitelkeit zu schmeicheln oder ihr gar Vorschub zu leisten, wenn es darum geht, für Spenden zu danken, um Spenden zu bitten oder aus irgendeinem anderen Grund. Wir werden unsere Gläubigen darum bitten, ihre Spendengaben als üblichen Bestandteil in Gottesdienst, Apostolat und sozialer Tätigkeit anzusehen (vgl. Mt 6,2–4; Lk 15,9–13; 2 Kor 12,4).
(8) Für den apostolisch-pastoralen Dienst an den wirtschaftliche Bedrängten, Benachteiligten und Unterentwickelten werden wir alles zur Verfügung stellen, was notwendig ist anZeit, Gedanken und Überlegungen, Mitempfinden oder materiellen Mitteln, ohne dadurch anderen Menschen und Gruppen in der Diözese zu schaden. Alle Laien, Ordensleute, Diakone und Priester, die der Herr dazu ruft, ihr Leben und ihre Arbeit mit den Armgehaltenen und Arbeitern zu teilen und so das Evangelium zu verkünden, werden wir unterstützen (vgl. Lk 4,18; Mk 6,4; Apg 18,3–4; 20,33–35; 1 Kor 4,12; 9,1–27).
(9) Im Bewusstsein der Verpflichtung zu Gerechtigkeit und Liebe sowie ihres Zusammenhangs werden wir darangehen, die Werke der „Wohltätigkeit“ in soziale Werke umzuwandeln, die sich auf Gerechtigkeit und Liebe gründen und alle Frauen und Männer gleichermaßen im Blick haben. Damit wollen wir den zuständigen staatlichen Stellen einen bescheidenen Dienst erweisen (vgl. Mt 25,31; 25,46; Lk 13,12–14; 33,34).
(10) Wir werden alles dafür tun, dass die Verantwortlichen unserer Regierung und unserer öffentlichen Dienste solche Gesetze, Strukturen und gesellschaftlichen Institutionen schaffen und wirksam werden lassen, die für Gerechtigkeit, Gleichheit und gesamtmenschliche harmonische Entwicklung jedes Menschen und aller Menschen notwendig sind. Dadurch soll eine neue Gesellschaftsordnung entstehen, die der Würde der Menschen- und Gotteskinder entspricht (vgl. Apg 2,44–45; 4,32-35; 5,4; 2 Kor 8 und 9; 1 Tim 5,16).
(11) Weil die Kollegialität der Bischöfe dann dem Evangelium am besten entspricht, wenn sie sich gemeinschaftlich im Dienst an der Mehrheit der Menschen – zwei Drittel der Menschheit – verwirklicht, die körperlich, kulturell und moralisch im Elend leben, verpflichten wir uns:
gemeinsam mit den Episkopaten der armen Nationen dringende Projekte zu verwirklichen, entsprechend unseren Möglichkeiten;
auch auf der Ebene der internationalen Organisationen das Evangelium zu bezeugen, wie es Papst Paul VI. vor den Vereinten Nationen tat, und gemeinsam dafür einzutreten, dass wirtschaftliche und kulturelle Strukturen geschaffen werden, die der verarmten Mehrheit der Menschen einen Ausweg aus dem Elend ermöglichen, statt in einer immer reicher werdenden Welt ganze Nationen verarmen zu lassen.
(12) In pastoraler Liebe verpflichten wir uns, das Leben mit unseren Geschwistern in Christus zu teilen, mit allen Priestern, Ordensleuten und Laien, damit unser Amt ein wirklicher Dienst werde. In diesem Sinne werden wir:
gemeinsam mit ihnen unser Leben ständig kritisch prüfen;
sie als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verstehen, so dass wir vom Heiligen Geist inspirierte Animateure werden, statt Chefs nach Art dieser Welt zu sein;
uns darum bemühen, menschlich präsent, offen und zugänglich zu werden;
uns allen Menschen gegenüber offen erweisen, gleich welcher Religion sie sein mögen (vgl. Mk 8,34-35; Apg 6,1–7; 1 Tim 3,8–10).
(13) Nach der Rückkehr in unsere Diözesen werden wir unseren Diözesanen diese Verpflichtungen bekannt machen und sie darum bitten, uns durch ihr Verständnis, ihre Mitarbeit und ihr Gebet behilflich zu sein.
Gott helfe uns, unseren Vorsätzen treu zu bleiben.
Dieser Text ist zuerst als Grundlagenartikel zur Adveniat-Aktion 2012 zum Thema "Kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika" erschienen. Wir danken für die Genehmigung zur Übernahme.