„Wir helfen dort, wo sonst niemand hilft“

„Wir helfen dort, wo sonst niemand hilft“

Flucht und Asyl ‐ Mehrere Tausend Flüchtlinge halten sich derzeit im Norden Bosniens rund um die Stadt Bihac auf. Viele von ihnen leben unter prekären Bedingungen und übernachten bei eisigen Temperaturen im Freien.

Erstellt: 31.01.2021
Aktualisiert: 29.01.2021
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Mehrere Tausend Flüchtlinge halten sich derzeit im Norden Bosniens rund um die Stadt Bihac auf. Viele von ihnen leben unter prekären Bedingungen und übernachten bei eisigen Temperaturen im Freien. Zlatan Kovacevic (43) ist einer der Menschen in der Region, die helfen. Gemeinsam mit einer Handvoll Freiwilligen gründete er im vergangenen Jahr die Hilfsorganisation „SOS Bihac“. Seither ist er Tag und Nacht im Einsatz, obwohl er im Bosnien-Krieg vor knapp 30 Jahren ein Bein verloren hat. Was er und seine Mitstreiter bei ihrer Arbeit erleben, berichtet Kovacevic im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Frage: Herr Kovacevic, wie ist die aktuelle Situation im Norden Bosniens?

Kovacevic: Die Situation ist seit drei Jahren die gleiche. Hier kommen jeden Tag 100 bis 200 Flüchtlinge an, die in die EU möchten. Manchen gelingt es, die grüne Grenze zwischen Bosnien und Kroatien zu überqueren, andere werden gewaltsam von der Polizei in die Region rund um Bihac zurückgebracht. Hier leben die Menschen dann entweder in sogenannten Dschungelcamps in den Wäldern oder in überfüllten Lagern. Dort herrschen schreckliche Zustände. Noch schlimmer ist aber, dass Europa seit Jahren zuschaut und nichts tut. Die knapp 90 Millionen Euro, die die EU bisher geschickt hat, sind in Behörden und Organisationen versandet, die es nicht schaffen, den Menschen vernünftige Lebensbedingungen zu bieten.

Frage: Was tun Sie und Ihre Organisation für die Migranten?

Kovacevic: Wir sind immer auf Abruf und erhalten rund um die Uhr Anrufe, zum Beispiel von Einheimischen die in den Bergen wohnen. Sie geben uns Hinweise, wo sich hilfsbedürftige Flüchtlinge aufhalten. Diese Menschen haben viel Schlimmes erlebt. Sie wurden irgendwo in Kroatien oder manchmal auch in Slowenien oder Italien festgenommen und in sogenannten Pushbacks illegal nach Bosnien zurückgebracht – oft ohne Schuhe, ohne Jacke. Meist haben sie tagelang nichts gegessen. Wir versuchen, sie etwas zu beruhigen und bringen ihnen Schuhe, Kleidung und etwas zu essen.

Frage: Und wenn Sie keine Anrufe erhalten?

Kovacevic: Dann machen wir Kontrollfahrten durch die Wälder oder fahren in die Stadt und schauen, ob wir dort jemandem helfen können. Heute waren wir in einer alten Fabrik, in der 150 Flüchtlinge leben. Wir haben uns angeschaut, was sie brauchen und auch Verletzte gesehen.

Frage: In welchem gesundheitlichen Zustand treffen Sie die Menschen im Allgemeinen an?

Kovacevic: Manche Menschen wurden von Hunden gebissen, andere haben gebrochene Beine oder Arme. Die meisten Verletzungen stammen vom Laufen. Viele sind zwei, drei Wochen am Stück zu Fuß unterwegs, ohne in festen Unterkünften zu schlafen oder etwas zu essen. Manchen wurden auch von kroatischen Polizisten Zähne ausgeschlagen oder Wunden am Kopf zugefügt. Wir haben auch schon Leichen und Knochen gefunden.

Frage: Nach der Auflösung des Camps Lipa haben Hunderte Menschen im Freien übernachtet. Inzwischen sind viele von ihnen in beheizten Zelten untergebracht. Ist das eine angemessene Unterkunft für die Menschen?

Kovacevic: Das Camp Lipa ist eine einzige Katastrophe und ein Beispiel für das Versagen der Bürokratie. Zu viele Behörden haben ihre Hände im Spiel und werden sich nicht einig, was dort eigentlich geschehen soll: die bosnische Staatsregierung, die Kantonsregierung und die Internationale Organisation für Migration (IOM). Mittlerweile ist Lipa nur noch Show. Internationale Hilfsorganisationen sind dort tätig und machen Selfies mit den Flüchtlingen. Unsere Unterstützung ist dort nicht mehr erwünscht und auch nicht notwendig. Wir gehen lieber an die anderen Orte im Land, die niemand im Blick hat. Wir helfen dort, wo sonst niemand hilft. Deshalb heißen wir „SOS Bihac“.

Bild: © KNA

Frage: Warum engagieren Sie sich für die Migranten?

Kovacevic: Ich war einer der ersten Verwundeten im Bosnienkrieg. 1992 ist direkt neben mir eine Granate explodiert und ich habe ein Bein verloren. Damals hat mich in Zagreb ein Arzt operiert, obwohl es den Kroaten verboten war, muslimische Bosniaken zu unterstützen. Dank fremder Hilfe habe ich das alles überlebt. Jetzt kann ich einfach nicht mitansehen, wie diese Leute leiden. Ich habe alle meine Freunde mobilisiert, die selbst früher einmal Hilfe in Not bekommen haben, um den Flüchtlingen zu helfen. Wir müssen die Migranten als Menschen betrachten. Und jeder Mensch ist von Gott geliebt.

Frage: Welche Reaktionen erhalten Sie auf Ihr Engagement?

Kovacevic: Am Anfang gab es viel Kritik, weil die Bürger aus Bihac dachten, dass wir es sind, die die Migranten in die Stadt bringen. Darauf haben wir angefangen, Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Wir haben gefilmt, wie die Menschen leiden und wie wir ihnen helfen. Das hat viel Verständnis bei der Bevölkerung geweckt. Natürlich gibt es weiterhin Menschen, die uns hassen. Aber das ist nur eine Minderheit.

Frage: In den Medien wurde berichtet, dass Teile der bosnischen Bevölkerung gegen die Aufnahme der Flüchtlinge demonstrieren und den Bau neuer Camps verhindern...

Kovacevic: Sie müssen verstehen, dass die Menschen in Bihac von der Staatsregierung in Sarajevo in den letzten 100 Jahren nichts bekommen haben – außer einem schnellen Zug, der jeden Tag 200 Flüchtlinge hierher bringt. Aus der Hauptstadt wird das Problem einfach in einen anderen Kanton verlagert, und die IOM macht viele Fehler. Mit Solidarität hat das nichts zu tun. Die Bürger, die demonstrieren, wollen nicht länger, dass Sarajevo und die internationalen Organisationen mit uns spielen. Sie haben nichts gegen Flüchtlinge und sind keine Faschisten. Manche Demonstranten haben den Migranten selbst Essen und Feuerholz gebracht. Aber sie kämpfen auch für ihre Stadt und ihre Rechte.

Frage: Sie sind teilweise rund um die Uhr im Einsatz und erleben dramatische Szenen mit. Wie halten Sie das aus?

Kovacevic: Dieser Augenblick, wenn ich einen Menschen in Not rette, gibt mir unheimlich viel Energie. Dieses Lächeln. Obwohl die Migranten so viele Problem haben, lächeln sie immer. Und wir in Bosnien und in Europa haben alles, und trotzdem sind wir ständig sauer und klagen, dass uns etwas fehlt.

Frage: Sehen Sie eine baldige Lösung für das Flüchtlingsproblem in Bosnien?

Kovacevic: Nicht wirklich. Die EU hat diese Krise verursacht und bietet keine vernünftigen Lösungen. Ich will es mal sarkastisch ausdrücken: Die EU sollte Bosnien kein Geld mehr geben, sondern alles in ihre Grenzschutzagentur Frontex investieren, damit überhaupt keiner mehr die Chance hat, rüber zu kommen. Das wäre ehrlich.

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Die Fragen stellte Michael Althaus

© Text: KNA