Sechs Monate nach der Explosion: Libanon weiter im Chaos
Naher Osten ‐ Sechs Monate nach der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen hat sich im Libanon nicht viel verändert - zumindest nicht zum Positiven. Ausgangssperren im Kampf gegen Corona verschärfen die Auswirkungen der Krise.
Aktualisiert: 17.02.2023
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Sechs Monate nach der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen hat sich im Libanon nicht viel verändert - zumindest nicht zum Positiven. Ausgangssperren im Kampf gegen Corona verschärfen die Auswirkungen der Krise.
Libanon stehe vor dem Kollaps, so heißt es schon länger. Der Abgesang auf das Land dauert an, so wie dessen vielschichtige Krise. Immer noch streitet die alte politische Führung um eine neue Regierung, geht das Volk gegen Missstände auf die Straße. Armut und Arbeitslosigkeit steigen rapide. Das Coronavirus hat Gesundheitssystem und öffentliches Leben fest in der Hand. Und sechs Monate nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut warten die Opfer noch immer auf Antworten.
„Die Behörden haben es in den vergangenen sechs Monaten versäumt, bezüglich der katastrophalen Explosion vom 4. August Gerechtigkeit zu bringen“, lautet das Urteil der Organisation Human Rights Watch (HRW) zum Halbjahrestag der Katastrophe. Stockende innerstaatliche Ermittlungen mit schwerwiegenden Verstößen gegen das Verfahren und Versuche der politisch Verantwortlichen, die Ermittlungen einzustellen, unterstrichen die Notwendigkeit für eine unabhängige internationale Untersuchung.
Seit fast zwei Monaten ruht der Fall. Ob er wieder aufgenommen wird, ist laut HRW unklar. Angeklagt wurden bisher 37 Personen aus unteren und mittleren Rängen der Hafenbeschäftigten. Von der Führung des Landes musste sich bislang niemand verantworten. Dabei wollen Sicherheitsexperten bis kurz vor dem Unglück vor dem enormen Risiko gewarnt haben. 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat lagerten da bereits sechs Jahre ungesichert im Hafen. Ihre Explosion kostete 205 Menschen das Leben. Weite Teile der Stadt wurden schwer getroffen.
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Bei einer ersten Bestandsaufnahme bezifferte Staatspräsident Michel Aoun den Schaden auf umgerechnet 12,7 Milliarden Euro. Ein Tropfen auf den heißen Stein sind da jene 28,5 Millionen Euro, die Übergangsfinanzminister Ghazi Wazni als Entschädigung für beschädigte Häuser und Unternehmen zusagte.
1.400 private Klagen handhabt die Beiruter Anwaltschaft gegenwärtig laut der Zeitung „Orient le Jour“ (Donnerstag). Der Kardiologe Nazih Adem ist einer der Kläger. Er verspricht sich „Gerechtigkeit“ – und den Namen der Verantwortlichen für den Tod seiner Tochter Krystel. „Das Gesetz der Stille, das diese Tragödie umgibt“, verhindere, dass die Wahrheit ans Licht komme, sagte er der Zeitung.
Auch wichtige Krankenhäuser hat die Explosion in Mitleidenschaft gezogen und damit das überlastete Gesundheitssystem mitten in der Pandemie zusätzlich geschwächt. „Die Triage hat begonnen!“, formulierte unlängst eine libanesische Zeitung. 3.000 Neuinfektionen und knapp 90 Todesopfer verzeichnete das Land zuletzt täglich. Es sind die bislang schlimmsten Wochen seit Auftauchen des Virus.
Geld für den dringend nötigen Ausbau von Kapazitäten fehlt, Medikamente werden knapp. Der Einkauf von Impfstoffen scheiterte zunächst an der Forderung der Hersteller nach Schutz vor Haftungsansprüchen. Erst eine Gesetzesänderung Mitte Januar brachte Einigung. Ob die Regierung aber Gelder für eine flächendeckende Impfung aufbringen kann, ist fraglich. Schon vor Covid-19 war das Land pleite.
Zuletzt setzte die Übergangsregierung auf drastische Ausgangssperren. Einkommensausfälle sind die Folge – für viele schon vor der Pandemie finanziell ausgeblutete Libanesen der letzte Schritt über die Armutsgrenze. Zu Tausenden zogen sie in der vergangenen Woche wütend auf die Straße. Erinnerungen an den Beginn der Anti-Regierungs-Proteste im Herbst 2019 wurden wach.
Die humanitäre Lage im Land ist dramatisch, beklagen internationale Helfer. Auf ein Sechstel seines Wertes ist das libanesische Pfund inzwischen gefallen. Preissteigerungen machen selbst Grundnahrungsmittel für wachsende Teile der Bevölkerung unbezahlbar. Die Spendenbereitschaft nach der Explosion war groß – aber ebenso ist und bleibt der Bedarf, so der Leiter für Internationale Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz, Christof Johnen; „im Libanon fehlt es an allem“.
Ähnlich klingen auch andere Hilfsorganisationen. Die Überforderung und das Gefühl von Ausweglosigkeit sei groß, sagte Malteser-International-Generalsekretär Clemens Graf von Mirbach-Harff. Und Care-Länderdirektor Bujar Hoxha formuliert: „Es fühlt sich so an, als wären die Schockwellen der Explosion immer noch spürbar.“
Misswirtschaft beherrscht seit Jahrzenten die politische Bühne des Landes, auf der sich eine Handvoll angestammte Dynastien die Macht teilen. Korruption ist an der Tagesordnung. Die Gründe für die dramatische Lage sind also schnell benannt. Doch die Forderungen nach Abhilfe verklingen ebenso schnell.
Von Andrea Krogmann (KNA)
© Text: KNA