Misereor: „Aleppo ist die Hölle“
Hilfswerke ‐ Kaum Hoffnung, nur noch Gewalt, Ohnmacht und Angst. Das Leid in der umkämpften syrischen Stadt Aleppo muss endlich ein Ende haben. Darum drängt Misereor auf eine sofortige Waffenruhe. Im Interview äußert sich Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks, auch zu anderen Brennpunkten und spricht über die Hilfe vor Ort.
Aktualisiert: 24.08.2016
Lesedauer:
Die Not in Syrien und die Flüchtlinge in aller Welt. Klimawandel und Rüstungsexporte. Zunehmende Bedrohungen von Menschenrechtsaktivisten und der klassische Kampf gegen Armut und Unrecht in aller Welt. Das alles und noch viel mehr beschäftigt das katholische Entwicklungshilfswerk Misereor in diesen Tagen. Bei der Vorstellung des Jahresberichts 2015 am Mittwoch in Bonn sprach Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel im Interview über aktuelle Brennpunkte und Herausforderungen.
Frage: Herr Spiegel, Sie machen sich große Sorgen um die Menschen in Aleppo. Was berichten Ihre Partner vor Ort?
Spiegel: Aleppo ist die Hölle, sagen die Franziskaner, mit denen wir dort zusammenarbeiten. Sie berichten von einer Situation, in der es kaum noch Hoffnung gibt, nur Gewalt, Ohnmacht und Angst. Die Franziskaner wollen buchstäblich um jeden Preis bei den Menschen bleiben, was auch immer kommen mag. Mit viel Fantasie und unter allen möglichen Gefahren organisieren sie etwa Wasser und Lebensmittel. Aber mindestens so wichtig ist auch, dass sie einfach da sind und da bleiben – auch als Ansprechpartner und Seelsorger, die das Signal geben: Wir lassen Euch nicht allein.
Frage: Was müsste denn getan werden für die Menschen in Syrien?
Spiegel: Wir fordern wie die UN eine Waffenruhe von mindestens 48 Stunden pro Woche. Aber das wäre nur der erste Schritt. Dann müssen alle Beteiligten endlich zurück an den Verhandlungstisch und verstehen, dass es keine militärische Lösung geben kann. Und bis dahin müssen wir durch unsere Spenden etwa die Helfer vor Ort unterstützen – auch um den Menschen in dieser Hölle zu zeigen, dass wir sie nicht vergessen.
Frage: Sie berichten von immer mehr Schikanen gegen Helfer vor Ort und Nichtregierungsorganisationen in immer mehr Ländern. Was steckt dahinter?
Spiegel: Auch wenn die Situationen sehr unterschiedlich sind, muss man doch sagen, dass der Einsatz für die Armen und für Menschenrechte immer gefährlicher wird. In mehr als 100 Ländern der Welt berichten unsere Partner davon, dass sie behindert werden in ihrer Arbeit. Oft gibt es Drohungen – auch gegen die Familien. Die Mächtigen wollen sich hier Kritiker um jeden Preis vom Leib halten.
Frage: Was lässt sich dagegen tun? Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Spiegel: In den Verhandlungen mit anderen Ländern darf es hier nicht allein um wirtschaftliche Interessen gehen. Ebenso konsequent muss die deutsche Regierung auf eine Einhaltung der Freiheitsrechte und der Menschenrechte für alle zivilgesellschaftlichen Kräfte dringen.
Frage: Sie sehen Fortschritte in der internationalen Politik nach dem Klimagipfel von Paris und nach den Beschlüssen zu den Nachhaltigkeitszielen. Folgen den Worten auch Taten?
Spiegel: Auch hier hakt es noch an vielen Ecken. Nur ein Beispiel: Wie kann es sein, dass in Deutschland der Kohleausstieg forciert und zugleich der Bau von Kohlekraftwerken in anderen Ländern unterstützt wird.
Frage: Wie bewerten Sie Politik der Bundesregierung in Sachen Rüstungsexporte und Konfliktbewältigung?
Spiegel: Hier gibt es sicher Fortschritte, aber auch noch viele Ungereimtheiten zwischen den verschiedenen Ministerien. Die einen fördern die Hilfe für die Armen und friedliche Konfliktlösungen, die anderen genehmigen mehr Rüstungsexporte. Und das passt nicht – erst recht, wenn man weiß, dass unterschiedliche bewaffnete Konflikte zu den Hauptursachen der derzeitigen Fluchtbewegungen gehören.
Frage: Sind Deutschland und die anderen EU-Staaten beim Thema Flüchtlinge auf dem richtigen Weg?
Spiegel: Zunächst möchte ich daran erinnern, dass von den 65 Millionen Flüchtlingen in der Welt die große Mehrheit Binnenflüchtlinge sind – etwa 40 Millionen. Dann kommen die, die in den meist auch sehr armen Nachbarländern unterkommen – mit allen Problemen, die damit verbunden sind. Und rund 4 Millionen klopfen an unsere Türen in Europa.
Frage: Und was macht Europa?
Spiegel: Ich finde, die meisten Länder setzen zu sehr auf die Sicherung ihrer Grenzen und die Abwehr von Flüchtlingen. Ich fürchte, dass dabei trotz gegenteiliger Beteuerungen Menschenrechte und Menschenwürde oft auf der Strecke bleiben. Aber jeder hat ein Recht auf gerechte und transparente Verfahren nach internationalen Standards. Und als kirchliches Hilfswerk ist es unsere Aufgabe, uns gegen Abschottungspolitik oder gar fremdenfeindliche Tendenzen einzusetzen.
Frage: Bei den Zahlen in Ihrem Jahresbericht fällt auf, dass es schwieriger wird, über die klassischen Kollekten an Spenden zu kommen – auch wegen des nachlassenden Kirchenbesuchs und des demografischen Wandels. Welche Alternativen suchen Sie hier?
Spiegel: Wichtig ist hier zum einen, dass wir neue Milieus in der Gesellschaft ansprechen und sie mit verschiedenen Aktionen auf unsere Arbeit aufmerksam machen. Und wenn wir ganz konkret aufzeigen, wo welche Not herrscht und wie unsere Partner helfen, machen wir sehr gute Erfahrungen. Die Menschen sind bereit zu helfen und zu spenden, aber sie wollen – zu Recht – genau wissen, was mit ihrem Geld passiert und dass die Hilfe auch ankommt.
Von Gottfried Bohl (KNA)
© KNA