Stolpern auf der Zielgeraden
Olympia ‐ In drei Tagen beginnen die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Statt Vorfreude breitet sich bei den Verantwortlichen Verzweiflung aus. Die Regierenden beschimpfen sich gegenseitig, die Nerven liegen blank. Hilfswerke schlagen Alarm.
Aktualisiert: 02.08.2016
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Als Rio de Janeiro 2009 den Zuschlag erhielt, eine Tradition des antiken Griechenlands erstmals in Südamerika aufzuführen, war damit eigentlich nicht die Tragödie gemeint. Doch nun scheint der Stadt kurz vor Beginn der Olympischen Spiele ein echtes Drama ins Haus zu stehen. Dank leerer Kassen, Korruption und Vetternwirtschaft droht eine Riesenblamage.
Die Olympia-Flaggen hängen bereits überall in der Stadt, doch die Stimmung ist mies. „Olympia ist eine verpasste Chance für Brasilien“, verkündete Bürgermeister Eduardo Paes zuletzt. Es wäre nicht der beste Moment, um im Fokus der Welt zu stehen. Denn derzeit gibt es schlechte Nachrichten zuhauf: Mauscheleien beim Stadionbau, von Funktionären geklaute Sportfördergelder, halbfertige U- und Straßenbahnen, verdreckte Gewässer und überall Baustellen. Die Lehrer streiken seit vier Monaten. Dazu die tagtäglichen Meldungen über zunehmende Gewalt, ermordete Autofahrer, angezündete Autobusse.
Menschenrechtler beklagen Polizeigewalt und Zwangsräumungen
Laut Amnesty International betreibt die Polizei in Armenvierteln derzeit eine „vorolympische Säuberung“. Im Mai seien 50 Personen erschossen worden, gegenüber 17 im gleichen Monat des Vorjahres. In den ersten drei Juniwochen kamen weitere 23 Tote hinzu. Medien berichten von nächtlichen Aktionen, um Obdachlose zwangsweise aus dem Zentrum zu entfernen.
Auch das Entwicklungshilfswerk Misereor kritisierte in dieser Woche die negativen Folgen von Olympia. Unnachgiebig und manchmal unmenschlich seien Zwangsräumungen und Umsiedlungen durchgeführt worden, um „die olympischen Traumwelten durchzusetzen“, erklärte das Hilfswerk am Montag in Aachen. Rund 70.000 Menschen seien betroffen gewesen.
„Sorge zu tragen und die Verletzlichsten ins Zentrum zu stellen sieht anders aus“, sagte Misereor-Chef Pirmin Spiegel. „Sie werden aus Stadtteilen verdrängt, die für Unternehmen und Investoren attraktiv sind.“ Dies sei für einen nachhaltigen und sozialen Frieden nicht förderlich. „Olympische Spiele 2016: Das kann eine Zitterpartie werden“, warnte der Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks. Anfang Juli wurde es dann auch für Rios sonst auf Optimismus getrimmten Bürgermeister Eduardo Paes zu viel. Zwei ARD/ZDF-Container waren von Banditen mitten in der Stadt geklaut worden, später sind sie wieder aufgetaucht. Zudem verkündete die klamme Landesregierung, dass die Krankenhäuser wohl während Olympia dichtmachen müssten. Dem Bürgermeister platzte der Kragen.
Rios Bürgermeister: „Wir sind am Limit“
Es müsse Schluss sein mit dem „Rumgeheule“ und dem ständigen „Blablabla“. Die Landesregierung solle endlich die Ärmel hochkrempeln und arbeiten – oder den Hut nehmen. Keine der von ihr zugesagten Aufgaben für Olympia habe sie erfüllt: weder die Reinigung der städtischen Gewässer noch die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. „Wir sind hier am Limit, niemand geht voran, gibt Kommandos.“ Rio stehe praktisch ohne Regierung da, so Paes unter Verweis auf die ausufernde Gewalt.
Brasilia leistet finanzielle Nothilfe
Doch Rios Landesregierung ist aufgrund der Wirtschaftskrise pleite. Dieses Jahr fehlen umgerechnet rund fünf Milliarden Euro Steuereinnahmen. Im Juni rief der Gouverneur den finanziellen Notstand aus, ein formeller Trick, um Notgelder vom Bund zu bekommen. Der darf dem Land eigentlich nichts leihen, da ältere Schulden nicht mehr bedient wurden. Nun hat Brasilia umgerechnet fast 900 Millionen Euro geschickt, um den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung zu verhindern.
Dass Krankenhäuser vor der Schließung stehen ist das eine. Dazu warten Pensionäre seit Monaten auf ihre Rente und der Kampf gegen die organisierte Kriminalität in den Favelas scheint mangels Mitteln empfindlich ins Stocken zu geraten. Dabei war gerade die Favela-Polizei UPP das große Olympia-Vorzeigeprojekt der Landesregierung. Mit der ersten UPP 2008 sollte eine neue Zeitrechnung anbrechen. Jetzt fehlen Gelder für das Nötigste, neue UPP-Projekte wurden gecancelt. Ein Ende des kompletten Projekts nach Olympia scheint denkbar; die damit verbundene Rückkehr der Drogenbanden in die Armenviertel wäre nicht nur imagemäßig eine Katastrophe.
Die Nothilfe des Bundes soll nun die Einsatzfähigkeit der Polizei in den kommenden drei Monaten garantieren. Dadurch, so der Gouverneur, würden Haushaltsgelder frei, um die U-Bahn zum Olympiapark fertigzustellen. Ursprünglich sollte die Linie 4 sechzehn Monate vor Olympia fertig gestellt und in eine ausführliche Testphase überführt werden. Am Wochenende wurde sie endlich eröffnet, fünf Tage vor Olympia.
Mit Blick auf den Öffentlichen Nahverkehr beklagen Misereor-Projektpartner, dass von den Investitionen im Wesentlichen Stadtbereiche profitiert hätten, die auf Verbindungsstrecken zu Sportstadien, Flughäfen oder Hotels liegen. In anderen Vierteln drängten sich dagegen weiter Menschen in veralteten und unzulänglichen Bussen und Bahnen. „Während der brasilianische Staat nach derzeitigen Schätzungen für Olympia mehr als neun Milliarden Euro selbst aufbringen wird, mangelt es in eklatanter Weise an Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr, ins Bildungs- und Gesundheitswesen und gegen Gewalt und Drogenhandel“, resümierte Misereor-Chef Spiegel.
Einziger Lichtblick inmitten der allgemeinen Trübe ist der Optimismus der Cariocas. Laut einer jüngsten Umfrage glauben 60 Prozent von Rios Einwohnern, dass Olympia trotz allem ein Erfolg wird. Und der Glaube versetzt ja bekanntlich Berge.
Von Thomas Milz (KNA) (ergänzt um Stellungnahme von Misereor durch lek)
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