„Deutschland ist auch ein Entwicklungsland“
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„Deutschland ist auch ein Entwicklungsland“

Entwicklungsagenda ‐ Keine Armut mehr 2030, weniger Hungernde, bessere Bildungschancen: Die Liste der nachhaltigen Entwicklungsziele ist lang. Ende September sollen sie auf dem UN-Gipfel in New York verabschiedet werden. Für Misereor-Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon ist klar: auch Deutschland muss dabei vieles anpacken.

Erstellt: 17.09.2015
Aktualisiert: 17.09.2015
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Keine Armut mehr 2030, weniger Hungernde, bessere Bildungschancen: Die Liste der nachhaltigen Entwicklungsziele, der Sustainable Development Goals (SDGs), ist lang - 17 Oberziele und 169 Unterziele. Vom 25. bis 27. September sollen sie auf dem UN-Nachhaltigkeitsgipfel in New York verabschiedet werden. Der Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor, Martin Bröckelmann-Simon, betont im Interview, dass auch Deutschland vieles anpacken muss.

Frage: Herr Bröckelmann-Simon, die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) laufen in diesem Jahr aus, wie erfolgreich waren sie?

Bröckelmann-Simon: Es gab Erfolge, etwa bei der Verringerung der absoluten Armut, der Mutter-Kind-Sterblichkeit oder einer höheren Einschulungsquote. Das sind gute Ergebnisse – aber eben nur in Teilen das, was man sich vor 15 Jahren vorgenommen hatte. Für uns ist vor allem wichtig, dass erstmals ein überprüfbares Instrument geschaffen wurde, auf das sich die ganze Völkerfamilie verständigt hat. Das war ein Schritt nach vorne und ist jetzt die Grundlage für den nächsten.

Frage: Wo haben die Ziele nicht das erwünschte Ergebnis gebracht?

Bröckelmann-Simon: Sie waren insgesamt zu partiell. Die Verringerung der absoluten Armut in China oder Brasilien reicht nicht aus, wenn man etwa an die Armut in Subsahara-Afrika denkt. Das gleiche gilt für Unter- und Mangelernährung. 795 Millionen Hungernde sind viel zu viele Leidende. Man lügt sich daher immer etwas in die Tasche, wenn man sagt „Ziel erfüllt“. Unsere Vision als kirchliches Werk ist das völlige Ende von Armut und Hunger.

„795 Millionen Hungernde sind viel zu viele Leidende.“

—  Zitat: Martin Bröckelmann-Simon, Misereor

Frage: Der UN-Gipfel und die SDGs sollen die Weichen stellen für die kommenden 15 Jahre. Wie?

Bröckelmann-Simon: Bei den MDGs ging es um Ziele nur für den globalen Süden. Jetzt geht es um die Frage eines guten Lebens für die ganze Welt. Viele Probleme im Süden hängen direkt mit unserem Lebensstil im reicheren Norden zusammen. Mit den SDGs verpflichtet sich die Völkergemeinschaft auf einen viele Bereiche umfassenden Wandel. Es geht aber auch darum, schlechte Regierungsführung und die Schwäche an Institutionen zu verringern und zugleich die Perspektiven für die Armen, vor allem auch in den ländlichen Regionen, zu verbessern.

Frage: Die SDGs nehmen auch die Industrienationen in die Pflicht. Wozu sollten sich die reichen Länder verpflichten?

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Bröckelmann-Simon: Die Ziele betreffen alle. Auch wir müssen hier in Deutschland etwa bei der Gesundheit, Armut, Bildung und Geschlechtergerechtigkeit oder beim nachhaltigeren Konsum vieles anpacken. Die Bundesregierung hat selbst gesagt, ein „weiter so“ sei keine Option. Die Nachhaltigkeitsziele bewegen sich dabei in drei Dimensionen. Zuerst die Ziele im eigenen Land, etwa bessere Bildungschancen für alle. Dann kommen Ziele im eigenen Land mit internationalen Folgen, etwa unser künftiger Verbrauch von Rohstoffen, wie Coltan in unseren Handys. Und zuletzt geht es um Ziele unserer internationalen Verantwortung und Außenwirtschaftspolitik, zum Beispiel menschenrechtliche Pflichten deutscher Unternehmen im Ausland.

Frage: Könnte der nationale Fokus den internationalen nicht schmälern?

Bröckelmann-Simon: Das glaube ich nicht. Die Verwobenheit der Welt ist eine wesentliche Erkenntnis der neuen UN-Ziele. Die Grenzen zwischen In- und Ausland, die teils noch in den Köpfen existieren, gibt es in der Praxis nicht mehr. Hinter den SDGs steht daher auch die Anerkennung, dass auch wir ein Entwicklungsland sind. Wir werden und müssen uns verändern.

Frage: Die Flüchtlingskrise zeigt, dass Kriege und Konflikte die Lage in zahlreichen Ländern unerträglich gemacht haben. Müssen die SDGs angesichts dieser Entwicklung umformuliert werden?

Bröckelmann-Simon: Hinter den Nachhaltigkeitszielen steht die Vision einer gerechteren und stabileren Welt mit weniger Konflikten. Wenn es gelingt, dies wirklich umfassend und verbindlich umzusetzen, könnte es gelingen, Fluchtgründe wie Verzweiflung und Perspektivlosigkeit zu verringern. Ich bin kein Utopist, aber es besteht eine Chance, weil klar benannt wird, wo wir ansetzen müssten. Migration gab es allerdings schon immer und sie nimmt bei wachsendem Entwicklungsstand zunächst sogar zu. Insofern werden die Ziele auch nicht primär migrationshemmend wirken. Sie sollten auch nicht in diesem Sinne verstanden werden.

Frage: 17 Ziele und 169 Unterziele, sieht man da den Wald vor lauter Bäumen noch?

Bröckelmann-Simon: Aus unserer Sicht bilden die Ziele notwendigerweise die Komplexität des Prozesses und der Aufgaben ab. Es ist gewiss herausfordernd, bei einer solchen Agenda die unterschiedlichen Bereiche im Blick zu behalten. Sorge bereitet mir daher das regelmäßige Überwachen der Umsetzung aller Ziele. Die Länder dürfen sich nicht nur diejenigen Ziele heraussuchen, in denen sie bereits relativ gut sind.

Frage: Ein Knackpunkt ist die Finanzierung. Die Geberkonferenz in Addis Abeba wurde vielfach als enttäuschend bewertet. Wie viele Mittel braucht es?

Bröckelmann-Simon: Ich glaube nicht, dass derzeit seriös berechnet werden kann, was die Umsetzung der Ziele kostet. Fest steht, es braucht in manchen Bereichen hohe Investitionen. Dafür muss unter anderem auch das Ziel von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Industrienationen für Entwicklungshilfe weiter vorangetrieben werden. Zugleich müssen aber auch schon vorhandene Finanzströme in die richtige Richtung gelenkt werden, ich nenne die Stichworte Steueroasen und Finanzmarktregulierung. Teils braucht es eben nicht zusätzliches Geld, sondern strukturelle Änderungen, damit die vorhanden Mittel die richtigen Menschen erreichen. Viele Länder haben keinen Mangel an Ressourcen, sondern verteilen sie falsch.

Von Anna Mertens (KNA)

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Die 17 Entwicklungsziele

Die UN-Mitgliedsstaaten wollen vom 25. bis 27. September in New York die nachhaltigen Entwicklungsziele, die Sustainable Development Goals (SDGs), verabschieden. Die Agenda enthält 17 Kernziele und 169 Unterziele, die bis 2030 erreicht werden sollen: 1. Das Ende der Armut in allen Formen weltweit. 2. Das Ende des Hungers weltweit, Ernährungssicherung sowie eine verstärkte Förderung nachhaltiger Landwirtschaft. 3. Sicherung eines gesunden Lebens und Wohlergehens für alle Altersgruppen. 4. Inklusive und gleiche Bildungschancen und Förderung des lebenslangen Lernens. 5. Geschlechtergerechtigkeit und Stärkung der Frauen und Mädchen. 6. Zugang zu Wasser und sanitärer Versorgung für alle. 7. Zugang zu erschwinglichen, verlässlichen und nachhaltigen Energieressourcen. 8. Förderung eines nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums sowie menschenwürdiger Arbeitsmöglichkeiten. 9. Bau einer widerstandsfähigen Infrastruktur, Förderung einer inklusiven und nachhaltigen Industrialisierung sowie die Förderung von entsprechenden Innovationen. 10. Reduzierung von Ungleichheiten in und zwischen Ländern. 11. Inklusive, sichere, gegen Naturkatastrophen gewappnete und nachhaltige Städte. 12. Nachhaltiges Konsumverhalten und Produktionsweisen. 13. Verstärktes Engagement gegen den Klimawandel und seine Folgen. 14. Erhalt der Ozeane und maritimer Strukturen. 15. Schutz der Ökosysteme, nachhaltige Forstwirtschaft, Kampf gegen Desertifikation und Förderung der Biodiversität. 16. Förderung von friedlichen und inklusiven Gesellschaften sowie der Zugang zum Rechtssystem für alle. 17. Stärkung globaler Partnerschaften für nachhaltige Entwicklung. © KNA