Franziskus: Ich bin kein Wahrsager. Ich habe kein persönliches Projekt mitgebracht, und zwar ganz einfach deshalb, weil ich niemals daran gedacht habe, dass man mich hier im Vatikan behalten würde. Das wissen alle. Ich bin mit kleinem Gepäck gekommen, um (nach dem Konklave) sofort nach Buenos Aires zurückzukehren. Ich tue, was ich tue nur, um das umzusetzen, was wir Kardinäle bei den Generalkongregationen überlegt haben, das heißt, bei den täglichen Versammlungen, die wir während des Konklave abhielten, um die Probleme der Kirche zu diskutieren. Daraus ergaben sich Überlegungen und Empfehlungen. Eine sehr konkrete Empfehlung lautete, dass sich der nächste Papst auf ein Beratungsgremium von außen stützen sollte, das heißt, ein Team von Assessoren haben sollte, die nicht im Vatikan wohnen.
LV: Sie haben daraufhin den sogenannten Rat der acht Kardinäle geschaffen.
Franziskus: Acht Kardinäle aus allen Kontinenten mit einem Koordinator. Sie treffen sich hier alle zwei bzw. drei Monate. Anfang Juli haben wir jetzt vier Tage für die Zusammenkunft, und wir werden die Änderungen vornehmen, die die Kardinäle selbst fordern. Das müssen wir zwar nicht machen, aber es wäre unklug, nicht auf die zu hören, die Ahnung haben.
LV: Sie haben sich auch sehr um die Annäherung an die orthodoxe Kirche bemüht.
Franziskus: Mein Bruder Bartholomäus I. ist nach Jerusalem gekommen, um des fünfzigsten Jahrestages der Begegnung zwischen Paul VI. und Athenagoras zu gedenken. Das war damals das erste Treffen nach mehr als tausend Jahren der Trennung. Seit dem II. Vatikanischen Konzil bemüht sich die katholische Kirche um diese Annäherung und die orthodoxe Kirche ebenso. Einigen orthodoxen Kirchen stehen wir näher als anderen. Ich hatte den Wunsch, dass Bartholomäus I. mit mir in Jerusalem wäre. Und da entstand dann der Plan, dass er auch zum (Friedens-)Gebet in den Vatikan käme. Das war für ihn ein riskanter Schritt, weil man ihm das zum Vorwurf machen konnte. Aber in diesem Gestus demütiger Haltung mussten wir einander die Hände reichen. Und wir brauchen das, weil man nicht mehr versteht, warum wir Christen gespalten sind. Es ist eine Sünde der Geschichte, die wir wieder gut machen müssen.
LV: Angesichts der Ausbreitung des Atheismus, was halten sie von den Menschen, die glauben, dass sich Wissenschaft und Religion nicht miteinander vereinbaren lassen?
Franziskus: Der Atheismus breitete sich stärker in der existenzphilosophischen Phase aus, vielleicht zur Zeit Sartres. Danach aber begann eine stärkere spirituelle Suche, eine Suche nach der Begegnung mit Gott auf tausenderlei verschiedene Weise, nicht notwendigerweise in den traditionellen Religionen. Die Konfrontation zwischen Wissenschaft und Glaube war in der Zeit Aufklärung besonders stark, aber heutzutage ist sie, Gott sei Dank, nicht mehr so bedeutsam, weil wir alle gemerkt haben, wie nahe sich beide sind. Papst Benedikt XVI. hat zur Beziehung zwischen Wissenschaft und Glaube hilfreiche Lehraussagen getroffen. Ganz allgemein gesprochen ist es heute doch üblich geworden, dass die Wissenschaftler sehr respektvoll den Glauben behandeln und der agnostische oder atheistische Wissenschaftler sagt, ich wage mich nicht auf dieses Feld vor.
LV: Sie haben viele Staatschefs kennengelernt.
Franziskus: Viele sind gekommen. Die Vielfalt ist interessant. Jeder bringt seine eigene Persönlichkeit mit. Mir ist besonders bei den jungen Politikern aufgefallen, dass sie quer über alle Lager – ob aus der Mitte, von links oder von rechts – etwas gemeinsam haben. Sie reden möglicherweise über die gleichen Probleme, aber in einem anderen Ton. Und das gefällt mir. Das lässt mich hoffen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Liebe, der Nächstenliebe. Warum? Weil sie zum Gemeinwohl führt. Ein Mensch, der sich nicht um des Gemeinwohls willen auf die Politik einlässt, obwohl er es könnte, handelt egoistisch bzw. verwendet die Politik zum eigenen Nutzen. Das ist korruptes Verhalten. Vor etwa 15 Jahren veröffentlichten die französischen Bischöfe einen Pastoralbrief, in dem sie über das Thema Réhabiliter la politique (Die Politik rehabilitieren) nachdachten. Das ist ein hervorragender Text, der macht dich auf all diese Dinge aufmerksam.