Gienger: Rund 30 Millionen Menschen waren seit dem 30. Juni auf den Straßen, 22 Millionen haben sich mit ihrer Unterschrift gegen das Regime und für Neuwahlen ausgesprochen. Viele von ihnen sagen, das ägyptische Volk sei nach einem Jahr mit Mursi und den Muslimbrüdern „geimpft“ gegen jegliche Form einer Diktatur. Sie haben deutlich gezeigt, wer der Souverän in einer Demokratie ist: das Volk. Und das wollen sie auch in Zukunft deutlich machen.
Frage: Aktuell gibt es Verwirrung um die Ernennung von Friedensnobelpreisträger Mohamed el-Baradei zum Regierungschef. Welche Gruppen spielen – außer den Islamisten und dem Militär – eine Rolle im Machtkampf?
Gienger: Da gibt es zum einen die Parteien und Gruppen, die der Opposition gegen Mohammed Mursi und seiner Regierung angehörten. Sie haben sich in der „Front des 30. Juni“ zusammengeschlossen und pflegten schon vor der Absetzung Mursis einen kurzen Draht zum Militär. Das Militär lud die „Front“ sowie unter anderen den Großscheich der Kairoer Al-Azhar-Universität, Ahmed Mohammed Al-Tayeeb, und den koptisch-orthodoxen Papst Tawadros II. zu Verhandlungen über das zukünftige Vorgehen. Ein wichtiger Teil dieser „Front“ ist die „Tamarod“-Bewegung. Sie war verantwortlich für die Unterschriftenaktion und die Großproteste am 30. Juni. Deren Sprecher ist el-Baradei, der nach jüngsten Informationen für ein wichtiges Amt in der Übergangsregierung gehandelt wird.
Frage: Warum hat Präsident Adli Mansur die Nominierung el-Baradeis zum Regierungschef zurückgezogen?
Gienger: Das ist momentan schwer zu ergründen. Aber die Verantwortlichen wollen offenbar möglichst viele Gruppen ins Boot holen, unter anderem die salafistische Nour-Partei. Und in diesen Kreisen gibt es offenbar Vorbehalte gegen el-Baradei.
Frage: Womit wir zu den religiösen Kreisen kommen. Wie positionieren sich deren Vertreter?
Gienger: Die Al-Azhar-Universität ist die jahrhundertealte religiöse Autorität der Sunniten und genießt sehr großes Ansehen. Scheich El-Tayeeb hat sich zuletzt öffentlich gegen Mohammed Mursi und seine Regierung gestellt. Auch die salafistische Nour-Partei ging auf Distanz zu Mursi und den Muslimbrüdern. Sie entwickeln sich immer mehr von einer religiösen Bewegung zu einer politischen Partei und versuchen unter Umständen, auch die Anhänger der Muslimbrüder zu gewinnen. Alles in allem also eine Partei, mit der man in Zukunft rechnen muss.
Frage: Und die Christen?
Gienger: Auch Tawadros II. hat in den letzten Tagen klarer Stellung bezogen: Er lobte die „Tamarod“-Bewegung und betonte die Rechte jedes Ägypters, friedlich zu demonstrieren. Zwar gab es unter Mursi auch Zugeständnisse an die Christen, aber als die neue ägyptische Verfassung dann auf Prinzipien der Scharia zurückgriff, war für viele von ihnen – aber genauso auch für viele Muslime – ein Punkt erreicht, an dem sie jegliches Vertrauen verloren. Die sehr große Mehrheit der Bevölkerung war damit gegen den Präsidenten, egal ob Christ oder Muslim. Die Religionszugehörigkeit spielte da weniger eine Rolle.
Frage: Zuletzt sorgte ein Urteil gegen die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung für Schlagzeilen in Deutschland. Wie würden Sie die Arbeitsbedingungen für Entwicklungshelfer und ihre in- und ausländischen Partnerorganisationen umschreiben?
Gienger: Den konkreten Fall will ich nicht kommentieren. Aber wir haben bisher in dieser Hinsicht keine Probleme. Die Gesetzgebung für Nichtregierungsorganisationen in Ägypten besagt, dass jedes Projekt eine Erlaubnis des zuständigen Ministeriums braucht. Sobald diese Erlaubnis erteilt wurde, bekommt man eine Art „Repräsentanten“ des Sozialministeriums auf lokaler Ebene zugeteilt. In einem der Projekte, die ich berate, haben wir damit sehr positive Erfahrungen gemacht: unser „Repräsentant“ unterstützt uns sehr unbürokratisch und mit viel Engagement.
Frage: Die Ereignisse überschlagen sich derzeit und es ist schwer, Prognosen zu treffen: Aber welche Wünsche haben die Ägypter, mit denen Sie täglich zu tun haben, für die Zukunft?
Gienger: Die Lehrer und Lehrerinnen sowie Kindergärtner und Kindergärtnerinnen, mit denen ich viel zusammenarbeite, wünschen sich ein Ende der Gewalt, einen Ort, an dem man Kinder gut großziehen kann, mehr Demokratie, Transparenz und Teilhabe. Sie wollen bessere Gehälter, sodass sie nicht gleichzeitig drei Jobs haben müssen, um ihre Familien ernähren zu können. Und sie wünschen sich, dass die Preise wieder fallen, dass es wieder Benzin gibt und die Müllabfuhr wieder regelmäßig kommt.
Von Joachim Heinz