Frage: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung, 70 Millionen Menschen, besaßen Ende 2015 mehr als die restlichen 99 Prozent, 7,3 Milliarden Menschen. Und das ist ja nicht ein Fehler im System, sondern dessen Gesetzmäßigkeit. Warum gibt es so wenig Reaktion auf Zahlen, wie Oxfam sie beispielsweise veröffentlicht?
Acosta: Es passiert ja etwas. Wir müssen uns eine andere Welt vorstellen. Damit fängt es an. Und offenbar ist es unglaublich schwer, sich etwas anderes als das Bestehende überhaupt nur vorstellen zu können. Die gute Nachricht ist, dass wir nicht bei null anfangen. Es gibt Erfahrungen und Praktiken überall auf der Welt, an die wir anknüpfen können.
Frage: An der Peripherie?
Acosta: Ja. Es gibt alternative solidarische Formen des miteinander Lebens, die sich sozusagen im Widerstand gegen die herrschenden kolonialen und kapitalistischen Systeme erhalten haben. Es geht nicht darum, etwas zu verklären oder zu romantisieren. Aber es geht um Erfahrungen, Anregungen, Impulse, wie Menschen in Verbindung mit der Gemeinschaft und mit der Natur leben und ihre Bedürfnisse befriedigen können. Es ist etwas, das wir gemeinsam wollen und ausprobieren müssen. Es hat schon angefangen.
Frage: Können Sie ein paar Praktiken beschreiben?
Acosta: „Randy-Randy“, ein Warentausch, bei dem Werte, Produkte und Arbeitstage in einer endlosen Kette ohne Entgelt übertragen werden. „Minka“, das sind Gemeinschaftsarbeiten für größere Projekte, die dem Kollektiv nutzen. „Makimañachina“, gegenseitige Hilfe ohne Bezahlung zwischen Einzelnen. Die Liste dieser Praktiken aus der Andenregion oder aus dem Amazonasbecken ist lang. Sie beinhaltet solidarische, auf Gegenseitigkeit aufbauende Beziehungen zwischen Einzelnen und Gemeinschaften in Bezug zur Natur.
Frage: Wieso rücken indigene Erfahrungen ausgerechnet jetzt ins Blickfeld?
Acosta: Indigene Gruppen sind erprobt im Widerstand. Ihr Selbstbewusstsein ist stärker geworden. Vielleicht spielt das Datum 1992 eine Rolle. Da haben wir noch einmal 500 Jahre Kolonialismus reflektiert. Neu ist, dass marginalisierte Gruppen ihre Vorstellungen in die Politik einbringen, nicht nur Rechte einfordern, sondern ihr Wissen und ihre eigenen Weltanschauungen in den politischen Diskurs einbringen.
Frage: Wie steht es um das „Buen Vivir“ in Ecuador aktuell?
Acosta: Schlecht. Wir haben geglaubt, der Staat könnte das Konzept des Buen Vivir durchsetzen. Man könne sozusagen die Welt von oben verändern. Aber so läuft das nicht. Ein Beispiel dafür ist, dass unser Vorschlag, Rohöl im Amazonasgebiet –Yasuni-ITT– nicht zu fördern und für den gewonnenen Klimaschutz eine Entschädigung vom globalen Norden zu bekommen, zwar aufgenommen, aber nicht entschieden durchgefochten wurde. In Wirklichkeit war es der Präsident selbst, der diesen von der ecuadorianischen Gesellschaft für die gesamte Welt erbrachten Vorschlag nicht verstanden hatte und ihm nicht gewachsen war. Es stimmt auch nicht ganz, dass „die Welt uns im Stich gelassen hat“, denn es war die ecuadorianische Regierung, der es nicht gelang, eine solide, kohärente Strategie zur Umsetzung dieser Utopie zu entwickeln.